Saar-Grüne: Frankreichstrategie und Französischförderung vom Kopf auf die Füße stellen

Hanko Zachow, Generalsekretär der Saar-Grünen, und Volker Morbe, stellvertretender Landesvorsitzender und bildungspolitischer Sprecher, begrüßen die Ankündigung von MP’in Anke Rehlinger, die Frankreichstrategie auf der Grundlage einer Evaluation fortzuführen. Diese Überprüfung sei gerade hinsichtlich des schulischen Französischlernens dringend erforderlich, weil Anspruch und Wirklichkeit der Französischförderung mittlerweile himmelweit auseinanderklafften. Frankreichstrategie und Französischförderung benötigten viel mehr Ernsthaftigkeit und Realitätssinn und weniger Ideologie. Es sei wenig sinnvoll, wenn zwar die saarländisch-lothringische und die deutsch-französische Freundschaft propagiert würden, aber gleichzeitig die Begegnungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler beider Länder heruntergefahren würden. Derzeit seien das Französischlernen und der deutsch-französische pädagogische Austausch klar auf dem Rückzug und alles andere als gut aufgestellt. Eine realistische Frankreichstrategie erfordere deshalb, dass das Bildungsministerium dringend Reformen angehe und qualitätssichernde, motivationssteigernde Maßnahmen umsetze, damit nicht wie in den letzten Jahren immer mehr Schülerinnen und Schüler sich so früh wie möglich vom Französischlernen abwenden – und dies sehr häufig mit einer negativen Haltung gegenüber Französisch und Frankreich!

Volker Morbe und Hanko Zachow sehen ein Grundproblem in den unterschiedlichen Zielen der 2014 veröffentlichten Frankreichstrategie: „Die Strategie hatte ja das Verdienst, dass die vorhandenen frankreichbezogenen Stärken des Saarlandes – im Bildungs- und Kulturbereich, in Wirtschaft und Gesellschaft – in den Fokus auch der überregionalen Öffentlichkeit gerückt wurden. Problematisch ergänzt wurde dies allerdings durch die Vision, dass das Saarland bis 2043 mit der zusätzlichen Verkehrssprache Französisch zweisprachig gemacht werden sollte, ohne hierfür die Unterstützung der Bevölkerung zu haben und ohne dass von Regierungsseite auch nur ein Euro bereitgestellt wurde. So wurde die Frankreichstrategie zwar zu einer erfolgreichen Marketingkampagne, bei der Frau Kramp-Karrenbauer national und international – in Berlin, Paris und Brüssel – gefeiert wurde und das Saarland ein starkes Alleinstellungsmerkmal hinzugewann. Saarlandintern sieht es jedoch anders aus. Umfrageergebnisse belegen, dass ein größerer Teil der Saarländer*innen dieser Vision schon von Beginn an skeptisch gegenüberstand beziehungsweise sie ablehnte. Es ist deshalb dringend notwendig, im Rahmen der Frankreichstrategie eine Sprachen- und Bildungspolitik mit realistischen Zielen zu entwerfen.“

Ganz im Widerspruch zum realistischerweise kaum zu erreichenden Ziel der landesweiten Zweisprachigkeit habe sich das Französischlernen zudem seit 2014 im Schulbereich zurück- statt fortentwickelt. Der Anteil der Schüler*innen, die Französisch lernen, ist stark zurückgegangen, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Auch die Zahl der deutsch-französischen Schülerbegegnungen, die MP‘in Rehlinger jetzt wieder steigern will (jede/r Schüler*in soll zukünftig einen schulischen Frankreichaufenthalt absolviert haben!), sei auch schon vor Corona stark zurückgegangen. „Waren in den 1990er Jahren rund 150 saarländische Grundschulen in Partnerschaften mit lothringischen Schulen aktiv, so muss man heute die Schulen, deren Schülerinnen und Schüler die Grenze überschreiten, mit der Lupe suchen“, so Volker Morbe. Schulen, die bei der Partnersuche Hilfe suchen, suchten diese vergebens, eine internetbasierte Partnersuchbörse gebe es nicht mehr. Außerdem würden Studienfahrten nach Lothringen und Frankreich in den Klassenstufen 7 und 8 durch den sehr restriktiven neuen Fahrtenerlass des Ministeriums von 2016/17 praktisch unmöglich gemacht, wenn man mit der Klasse noch in Klasse 9 oder 10 eine Abschlussfahrt unternehmen wolle, was Standard sei: „Wenn man die Frankreichstrategie ernst nimmt, müssen hier unbedingt Sonderregelungen und eine Vielzahl neuer Möglichkeiten für Begegnungen mit lothringischen und französischen Schülerinnen und Schülern geschaffen und finanziert werden“, so Hanko Zachow.

Beim individuellen Schüleraustausch im Rahmen des 2003 auf saarländische Initiative hin geschaffenen interregionalen Schuman-Programms würden zwar vom Bildungsministerium saarländischen Schülerinnen und Schülern noch zweiwöchige Aufenthalte in Lothringen, Luxemburg und Wallonien vermittelt, doch seien die Zahlen stark gesunken. Zudem suche man vergebens nach Vermittlungsmöglichkeiten für vier- und acht- bis zwölfwöchige Aufenthalte, die beispielsweise Baden-Württemberg gemeinsam mit seinen Partnerregionen seinen Schulen weiter anbiete. Auch die Tatsache, dass die aus EU-Mitteln finanzierte und vom Saarland erstellte Internetseite www.schuman-programm.eu , die Schüler*innen ebenso wie Lehrkräfte und Eltern mit Informationen und einer Fülle von Materialien wie beispielsweise Schülervideos unterstützte, von der Homepage des Ministeriums nicht mehr erreichbar sei, sei ein Gradmesser, wie wenig Wert das Bildungsministerium dem deutsch-französischen Austausch aktuell noch beimesse. „Auf all den Austauschfeldern muss das Bildungsministerium dringend einen Neuaufbruch wagen und sehr viel aktiver und kreativer werden, will man die Ziele von Frau Rehlinger auch nur annähernd verwirklichen“, so Volker Morbe und Hanko Zachow.

Positiver wird der Ausbau der zweisprachigen Kitas mit französischsprachigem Personal gesehen, auch wenn an vielen Standorten noch keine Fortsetzung des Französischlernens ab der 1. Klasse möglich sei. Auch an beruflichen Schulen gebe es mit dem Modell “Deutsch-Französischer Berufsschulzweig“ seit 2014 einen Ausbau der frankreichbezogenen Möglichkeiten. Bedauerlich sei dagegen dort, dass der „Praktikantenaustausch“, ein Kooperationsprojekt von Ministerium mit IHK und HWK, schon seit 2019 nicht mehr stattfinde.

Das Französischlernen in der Grundschule sei in den letzten Jahren nicht nur praktisch nicht ausgebaut worden, sondern es seien auch schon seit 10 Jahren keine diesbezüglichen neuen qualitätssteigernden Fördermaßnahmen umgesetzt worden, obwohl dies angesichts der sehr unterschiedlichen Qualität des Unterrichts an vielen Standorten dringend notwendig sei, wie das Sprachenkonzept der Landesregierung von 2019 fordere. Ergebnis sei, dass ein guter Teil der Schüler am Ende der Grundschulzeit nicht mehr für das Weiterlernen von Französisch motiviert ist. Dass selbst das Bildungsministerium nicht wirklich an der Vision eines zweisprachigen Saarlandes 2043 interessiert sei, belege seine mangelnde Zustimmung zum Projekt BiPrimar. Unter diesem Namen habe die lothringische Schul- und Hochschulbehörde der Universität des Saarlandes und dem Bildungsministerium 2018 einen gemeinsamen deutsch-französischen Studiengang vorgeschlagen. Zweisprachige Grundschullehrkräfte sollten demnach gemeinsam an wechselnden Orten (Saarbrücken und Metz/Nancy) für den Schuldienst an Grundschulen in Deutschland und Frankreich ausgebildet werden und auf dieser Basis die deutsche wie die französische Unterrichtsbefähigung erlangen. Volker Morbe hierzu: „Es ist unerklärlich, warum das saarländische Bildungsministerium in Zeiten des Lehrkräftemangels und der Frankreichstrategie diese Riesenchance verpasst hat, um auf diesem Weg auch interessierte Bewerber/innen aus Lothringen und den anderen Bundesländern für den saarländischen Schuldienst zu interessieren. Zwischenzeitlich ist wohl dieses weit geöffnete Fenster der Gelegenheit geschlossen. Unverständlich ist auch, dass das Bildungsministerium vollausgebildete französische Grundschullehrkräfte mit hervorragenden Deutschkenntnissen, die seit längerem an saarländischen Grundschulen Französisch und oft auch andere Fächer unterrichten, eine Gehaltsstufe schlechter bezahlt als die deutschen Kolleginnen und Kollegen. Wertschätzend und gerecht erscheint mir das nicht, eher schon diskriminierend!“

Am Gymnasium werde Französisch stabil nachgefragt, nur in der Hauptphase der gymnasialen Oberstufe werde das Fach immer seltener gewählt. Auch hier sollte die Nähe zu Lothringen und zu Paris viel stärker genutzt werden, um Schüler*innen für das Weiterlernen und deutsch-französische Studienangebote (erfolgreich erprobt: Kooperation mit DFHI – Exkursionen an die Uni Metz) zu interessieren und zu motivieren. Ein gravierendes Problem stellt sich seit einigen Jahren an den Oberstufen mit bilingualem deutsch-französischem und deutsch-englischem Zug und mit entsprechendem Sachfachunterricht in Erdkunde, Geschichte und Politik in französischer bzw. englischer Sprache. Ursache seien die Entscheidungen des Bildungsministeriums, einerseits das Referendariat zu verkürzen und damit den Erwerb des bilingualen Zusatzmoduls für Sprachfachlehrkräfte praktisch unmöglich zu machen, und andererseits die spätere Weiterqualifizierung mittels Zertifikatsfortbildung am Landesinstitut nicht mehr anzubieten. Gerade die AbiBac-Gymnasien, die im Saarland erfolgreich den gleichzeitigen Erwerb der deutschen Allgemeinen Hochschulreife und des französischen Baccalauréat anbieten, sähen das Angebot im Saarland massiv gefährdet. Hier müsse das Bildungsministerium dringend ein neues Weiterbildungsmodul entwickeln und anbieten, um das bilinguale Lernen zu retten.

Das größte Französisch-Problem, so Hanko Zachow, ergebe sich derzeit in den Klassen 5 und 6 der Gemeinschaftsschule: „Aus dem Abschneiden der saarländischen Schülerinnen und Schüler der 4. Klasse im Schuljahr 2020/21 beim Bildungstrend 2021 des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen lässt sich errechnen, dass mindestens rund 30% der Schüler*innen der Gemeinschaftsschulen derzeit in den Eingangsklassen die Grundschul-Mindeststandards im Deutsch-Leseverstehen, in der Orthographie und auch in Mathematik nicht erreicht haben und massiven Förderbedarf in die Gemeinschaftsschule mitbringen. Sie verfügen damit nicht über die Mindestkompetenzen, um dem lehrplanorientierten Unterricht sinnvoll folgen zu können. Und seit Jahren schon schlagen Leiter*innen von Gemeinschaftsschulen vor, dass ein Deutsch- bzw. Mathematik-Förderangebot insbesondere für diese schwachen Schüler*innen statt des obligatorischen Französischlernens im Sprachkurs (je zwei Unterrichtsstunden in den Klassen 5 und 6) sinnvoll bzw. notwendig sei. Auch sei generell die Mehrzahl der Schüler*innen wenig am Französischlernen interessiert. Angesichts dieser nachgewiesenen großen Deutsch- und Mathematik-Defizite vieler Schüler*innen wie auch der Motivationsdefizite für Französisch erscheint es unverständlich, warum das Ministerium nicht schon längst Konsequenzen aus den Forderungen der Schulleitungen gezogen hat. Die Deutsch- und Mathematikförderung muss in dieser Notsituation – anders kann man es nicht nennen, denn die Ausbildungsreife dieser Risikoschüler*innen ist massiv gefährdet! – den Vorzug bekommen. Wenn motivierte Schüler*innen ohne Kompetenzdefizite weiter im Sprachkurs Französisch lernen könnten, wäre damit wohl auch gesichert, dass das Abschlussniveau des Französisch-Kompetenztests am Ende der 6. Klasse mit dem des Englisch-Kompetenztests vergleichbar wäre. Weil dem seit Jahren nicht so ist, hat die IHK des Saarlandes, die auf der Grundlage einer Kooperationsvereinbarung mit dem Ministerium die im Sprachkurs erworbene Sprachkompetenz der Schüler*innen mit Sprachkompetenzbescheinigungen gefördert und zertifiziert hatte, 2019 die Zusammenarbeit unterbrochen. Nach Informationen der IHK hat das Bildungsministerium bis heute auf das Schreiben der IHK nicht reagiert. Die richtungweisende und qualitätssichernde Zusammenarbeit sollte das Bildungsministerium schnellstmöglich wieder aufnehmen, damit die saarländischen Schülerinnen und Schüler im Sprachkurs der Gemeinschaftsschule wieder ein IHK-Zertifikat der Stufe A1 erwerben können.“

„Die Saar-Grünen unterstützen die Frankreichstrategie“, so Volker Morbe und Hanko Zachow, „aber die Ankündigungen der Ministerpräsidentin und Bundesbeauftragten müssen bei der Französischförderung zu einem Neuaufbruch führen. An nicht wenigen Stellschrauben sind wie im Sprachenkonzept der Landesregierung beschrieben Reformen und qualitätssichernde Maßnahmen dringend erforderlich. Wenn das nicht angegangen wird, ist das Missverhältnis zwischen den gut gemeinten, aber angesichts der Realitäten als vollmundig und nicht umsetzbar empfundenen Ankündigungen der Ministerpräsidentin und dem stagnierenden bzw. teilweise stark zurückgehenden Französischlernen in den Schulen geeignet, Politikverdrossenheit im Lande zu steigern und die Frankreich- und Französischverdrossenheit von immer mehr Schülerinnen und Schülern, aber auch Lehrkräften, zu verstärken.“