Stark sinkende Schülerleistungen im Saarland: Bildungswissenschaftler Maritzen erklärt positive Leistungsentwicklung in Hamburg 28. März 20241. April 2024 Auf Einladung der Saar-Grünen hat der langjährige Leiter des Hamburger Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung, der Bildungswissenschaftler Norbert Maritzen, auf einer Informations- und Diskussionsveranstaltung in Saarbrücken wichtige Elemente der erfolgreichen Strategie der Schulsystementwicklung Hamburgs vorgestellt. Grünen-Vorsitzender Volker Morbe sieht hier ein Modell für die dringend benötigte Neuausrichtung der saarländischen Bildungspolitik. Die anwesenden Bildungsinteressierten und Vertreter*innen von verschiedenen Lehrer- und Bildungsverbänden zeigten großes Interesse. Die saarländischen Grünen haben die Öffentlichkeit in den letzten Monaten wiederholt darüber informiert, dass die Leistungen der saarländischen Schülerinnen und Schüler in Schulleistungsuntersuchungen laut Bildungstrends der Kultusministerkonferenz in den letzten Jahren vor allem an den Gemeinschaftsschulen sehr stark gefallen sind. Hierzulande gibt es an dieser Schulform immer mehr Risikoschüler*innen, die nicht einmal die Mindeststandards in Mathematik, Deutsch, Englisch und Französisch erreichen und damit die Ausbildungsfähigkeit verfehlen. Ganz im Gegensatz dazu hat sich der Anteil der Risikoschüler*innen in Hamburg in den letzten Jahrzehnten trotz des sehr hohen Anteils von Schüler*innen mit Migrationshintergrund sowie Schüler*innen aus bildungsfernen Elternhäusern sehr stark verringert (Beispiel: 6. Platz im Grundschulvergleich 2021). Die Ursache hierfür sah Maritzen in seinem Vortrag vor allem in der in Hamburg praktizierten strategischen Schulsystementwicklung auf der Basis von Daten einschließlich des Bildungsmonitorings, was in Hamburg durch einen überparteilichen Konsens geschützt sei. Die Hamburger Risikoschüler*innen erhalten im Laufe ihrer Schullaufbahn im Vergleich zum Saarland viel größere Möglichkeiten und Chancen, den Übergang in eine Berufsausbildung zu erreichen und ihre Bildungsbiografien erfolgreich zu gestalten. Der grüne Landesvorsitzende Volker Morbe zeigte sich besonders beeindruckt davon, dass die Leistung in Hamburg auf allen Ebenen im Mittelpunkt steht und dass es ein durchgehendes Leistungsprinzip gibt: „Der Staat sieht sich, so Maritzen, in der Bringschuld, Schulen und Schülerinnen und Schüler beim Bildungserwerb bestmöglich und jeweils unterschiedlich je nach Bedarf zu unterstützen. Dieses fokussierte Unterstützungssystem, das es im Saarland nicht gibt, wurde über viele Jahre aufgebaut und beinhaltet zum Beispiel bei der Sprachförderung, dass in Hamburg die Sprachkompetenz jedes 4,5 Jahre alten Kindes einem Screening unterzogen wird. Kinder, bei denen ein Sprachförderbedarf festgestellt wird, werden sofort eingeschult und erhalten obligatorischen Deutschunterricht. Später gibt es für diese Schüler*innen kostenlose und verpflichtende Nachhilfe, die von der Schulbehörde organisiert wird. Auch können sie vom Angebot der „Hamburger Lernferien“ profitieren. Kein Kind soll abgehängt werden, eine Forderung, für die im Saarland strukturell Personal und Sachmittel fehlen!“ Überzeugt zeigte sich Morbe auch von der Tatsache, dass in Hamburg Ungleiches ungleich behandelt werde. Die Ressourcen für die Schulbildung würden nicht wie im Saarland mit der Gießkanne auf die Schulen verteilt, sondern Schulen und Klassen würden je nach Belastung auf der Basis von Sozialindices unterschiedlich personalisiert und gefördert. Hier spielten Merkmale wie eine nicht-deutsche Familiensprache, eine sozial schwierige Lage und sonderpädagogischer Förderbedarf eine wichtige Rolle. Volker Morbe weist auch auf die zentrale Bedeutung des Bildungsmonitorings in Hamburg hin, das im Saarland praktisch nicht existent sei: „In Hamburg werden in allen Schulen und in allen Klassen flächendeckend in den Klassenstufen 2,4,5,7 und 9 Lernstandserhebungen aller Schülerinnen und Schüler in den Fächern Deutsch und Mathematik und später auch Englisch durchgeführt. Hierbei werden die fachspezifischen Kompetenzen vom speziell hierfür eingerichteten Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) ermittelt, das die Schülerbögen zentral auswertet und die Ergebnisse Schulen und Lehrkräften zur Verfügung stellt. Auf dieser Basis können dann in den Schulen und Klassen datenbasierte Fördermaßnahmen eingeleitet werden, die Kompetenzdefiziten, wie sie im Saarland immer häufiger werden, vorbeugen. Und Hamburg verhält sich hier nicht anders als alle deutschen Bundesländer mit guten Schülerleistungen, weil sie alle ein solches Bildungsmonitoring einsetzen.“ Das im Saarland fehlende Bildungsmonitoring ebenso wie das Fehlen einer Strategie der Schulsystementwicklung sieht Morbe als verhängnisvoll an: „Vor dem Hintergrund der Hamburger Förderpolitik kann der saarländischen Bildungspolitik insbesondere im Bereich der Grund- und Gemeinschaftsschulen nur unterlassene Hilfeleistung bescheinigt werden. Im Bildungsministerium werden so viel Lehrkräfte wie noch nie für Aufgaben ge- beziehungsweise mutmaßlich missbraucht, die eigentlich von Mitarbeiter*innen mit Planstellen im Ministerium erledigt werden müssten. Die Grund- wie Gemeinschaftsschulen dagegen sind sehr stark unterpersonalisiert, so dass in vielen Fällen dringend benötigte Doppelpersonalisierungen nicht möglich sind und die Schulen ebenfalls dringend benötigte Fördermaßnahmen nicht auf den Weg bringen können. Dass im Vergleich zu Hamburg im Saarland gerade die schwachen Schülerinnen und Schüler Opfer der Bildungspolitik sind, ist Ergebnis der Tatsache, dass das sozialdemokratisch regierte Bildungsministerium sich hierzulande bei weitem nicht ausreichend um die besonders Schwachen kümmert. Deren Potentiale können unter den saarländischen Rahmenbedingungen derzeit nicht ausreichend gehoben werden!“ In diesem Zusammenhang wertet Volker Morbe die Tatsache, dass sowohl die Bildungsministerin wie auch ihre Staatssekretärin zur Maritzen-Veranstaltung eingeladen waren, aber absagten und auch keine Vertreter*innen schickten, als mangelndes Interesse: „Die Informationspolitik des Ministeriums ist unterirdisch. Statt die Maxime „Hinschauen – Unterstützen – (Heraus-) Fordern“ zu verwirklichen, wird die hässliche Wahrheit verheimlicht. Bis heute hat das Ministerium weder die Öffentlichkeit noch alle an Schulen Beteiligten beispielsweise über die Ergebnisse des letzten Bildungstrends und entsprechende Problematiken informiert. Dabei hat die Arbeitskammer des Saarlandes schon 2022 die Landesregierung in ihrem Bericht „Mehr Bildung wagen! Gerade jetzt muss das Saarland investieren!“ zu einem qualitativen und quantitativen Ausbau des gesamten Bildungswesens aufgefordert, der die Zukunftsfähigkeit unseres Landes sichern müsse. Notwendig seien eine „Bildungsoffensive für eine inklusive, chancengerechte und hochwertige Schulbildung“. Gerade an Gemeinschaftsschulen, so die Arbeitskammer in ihrem Bericht, müssten Lehrkräfte nach sozialen Indikatoren schulscharf zugeteilt werden, so dass etwa einzelne Gemeinschaftsschulen mit besonderen sozialen und pädagogischen Herausforderungen bis zu ca. 30 % mehr Personal (inkl. gebundener Ganztag und andere Unterstützungsprogramme) erhalten könnten als gleich große Gymnasien.“ In diesem Zusammenhang ist es von Interesse, dass nicht nur die Arbeitskammer, sondern auch die Vereinigung Saarländischer Unternehmensverbände (VSU) mit ihrem Präsidenten Dr. Oswald Bubel aktuell einen Vorrang für die Bildungspolitik fordert mit der Vermittlung von Kernkompetenzen für junge Erwerbstätige. Volker Morbe abschließend: „Frau Rehlinger und Frau Streichert-Clivot, das Modell Hamburgs und die gut begründeten Vorschläge der Arbeitskammer liegen auf dem Tisch. Sorgen Sie für eine qualitäts- und leistungsorientierte Bildungswende im Saarland und dafür, dass die Landesregierung ihrem Bildungsauftrag zum Wohl der jungen Menschen und der Zukunft des Saarlandes nachkommt!“ Zu Ihrer Information: IQB-Bildungstrend Mathematik 2018Schon 2022 bezeichnete die Arbeitskammer in ihrem Bildungsbericht die Leistungsentwicklung der saarländischen Neuntklässer*innen im Kernfach Mathematik als besorgniserregend. Laut IQB-Bildungstrend (BT) 2018 wurde unter den Neuntklässer*innen im Saarland in Mathematik und in den Naturwissenschaften eine überdurchschnittlich hohe Risikogruppe festgestellt. Über 31,2 % der saarländischen Schülerinnen und Schüler verfehlten in Mathematik den Mindeststandard für den mittleren Schulabschluss – im Bundesvergleich ist das der drittletzte Platz. 2012 waren es noch 28,2 %. Den sogenannten KMK-Regelstandard für den Mittleren Abschluss erreichten nur 36,8 % (zweitletzter Platz). Gegenüber 2012 hat sich damit das Saarland nochmals um -3,8 Prozentpunkte verschlechtert, wobei der Deutschlandtrend mit +0,5 Prozentpunkten positiv war. Dass sich in diesen Zahlen vor allem die gravierenden Probleme der Gemeinschaftsschulen spiegeln, belegt das Abschneiden der saarländischen Gymnasiasten, in denen 79,1 % den KMK-Regelstandard in Mathematik erreichten (7. Platz im Länderranking Gymnasialschüler/innen). IQB-Bildungstrend 2022 – DeutschLaut IQB-Bildungstrend 2022 (Deutsch, Englisch, Französisch), der am 13. Oktober zum Abschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) in Berlin vorgelegt wurde, scheiterte im Fach Deutsch im vergangenen Jahr im Saarland wie in Deutschland insgesamt etwa jede*r dritte Neuntklässer*in bei den deutschlandweiten Tests an Mindeststandards für den mittleren Schulabschluss (MSA) im Bereich Lese- und Hörverstehen, mehr als jeder Fünfte verfehlte diese im Bereich Rechtschreibung. Problematisch erscheint, dass der Kompetenzrückgang im Saarland in allen Kompetenzbereichen (im Leseverstehen, im Zuhören und in der Orthographie) stärker war als im Bundesdurchschnitt. IQB-Bildungstrend 2022 – EnglischIm Fach Englisch wird die Entwicklung der saarländischen Schülerleistungen im BT-Bericht als „eine auffällige Ausnahme auf Länderebene von den überwiegend positiven Trends“ der anderen Länder beschrieben, weil im Saarland als einzigem Land im Fach Englisch kein Anstieg der zuvor erreichten Kompetenzen zu verzeichnen ist. 40,3% (SL 2015: 33,6%; Deutschland 2022 gesamt: 14%) der saarländischen Schüler*innen haben den Mindeststandard MSA im Leseverstehen und 20,5% (D gesamt: 14%) im Hörverstehen nicht erreicht. Das sind die mit Abstand höchsten Werte aller Bundesländer! Die offengelegten eklatanten Kompetenzmängel betreffen auch hier in erster Linie die Gemeinschaftsschulen, weil an den saarländischen Gymnasien in etwa der Durchschnittswert der deutschen Gymnasien erreicht wurde. IQB-Bildungstrend 2022 – FranzösischAuch im Fach Französisch, in dem die Werte aufgrund verschiedener länderspezifischer Ausgestaltungen des Französischunterrichts nur begrenzt vergleichbar sind, wurden im Saarland sehr starke Kompetenzrückgänge verzeichnet. Den KMK-Regelstandard für den Mittleren Abschluss erreichten an den Gemeinschaftsschulen im Leseverstehen nur noch 6,6% (nach 14% in 2015 und 29,8% in 2008) der Neuntklässer*innen, im Hörverstehen nur noch 11,5% (nach 18,8% in 2015 und 24% in 2008). An den Gymnasien erreichten den KMK-Regelstandard für den Mittleren Abschluss im Leseverstehen nur noch 37,8% (nach 60,6% in 2015), im Hörverstehen nur noch 46,4% (nach 68,5% in 2015). Zum Vergleich: im gleichen Zeitraum verbesserten sich die Gymnasien in Baden-Württemberg im Leseverstehen um 7,6% auf 67,9% und im Hörverstehen um 11,2% auf 76%. Auch in Französisch (an Gymnasien) sind die aktuellen Werte in Französisch die niedrigsten im Ländervergleich.